Ausnahmemenschen

Ausnahmemenschen

Heute hatte ich keine Verabredungen und entschloss mich, einen Spaziergang zu machen, um meine Eindrücke der letzten Zeit zu verarbeiten. Interessanterweise beschäftigen mich meine Probleme in Deutschland kaum, denn was ich hier in der Ukraine erfahren hatte, lässt all das in Deutschland wie einen Kindergarten aussehen. Vor allem ging mir die Geschichte eines Freundes aus dem Donbass nicht aus dem Kopf.

Auf meinem Weg durch den Wald und dann über freies Feld begleiteten mich Schmetterlinge, die miteinander in der Luft zu tanzen schienen. In der Sonne roch es nach Heu und es war wunderbares Wetter. Genau das richtige Ambiente, um seine Gedanken schweifen zu lassen…

Was drückte mich nun so sehr? Im Prinzip traf ich vor gut einem Jahr einen älteren Herrn, der sich im Donbass für Kinder engagiert. Er half einer Freundin uns so lernte ich ihn auch kennen. Was ich nicht wusste: er wurde im August 2014 von den Separatisten gefangen genommen und war dort fast einen Monat im Gefängnis. Er wurde mit einem weiteren Zivilisten und zwei Militärangehörigen ausgetauscht und kam so wieder frei. Doch seinen Willen gebrochen hatten sie nicht. Wir sprachen darüber, als ich jetzt in Kramatorsk war.

Er bat mich, jemanden zu finden, der sich für seine Geschichte interessiert und darüber berichtet. Dabei geht es nicht um ihn als Person und welche außergewöhnlichen Dinge er erlebte, sondern dass die Nachwelt erfährt, was im Donbass passiert. Und diese Bitte vernahm ich nicht nur einmal von ihm, sondern hatte bereits öfters von anderen solche Anfragen. Es geht diesen Leuten darum, jemandem das zu erzählen, was sie erlebten und wohl selbst kaum fassen können, weil es wirklich außergewöhnlich ist. Sie sind dabei in etwas hineingeraten, auf das sie selbst keinen Einfluss hatten. Ich meine diesen Krieg, der für Außenstehende sowieso nicht fassbar ist.

Doch ich schweife ab. Zurück zu meinem Freund und seiner Geschichte im Speziellen: ursprünglich hatte er ein Hobby, alte Uhren zu reparieren. Dafür braucht man sehr ruhige Hände. Doch in der Gefangenschaft wurde er mehrfach mit Gewehrkolben so lange auf den Kopf geschlagen, bis er das Bewusstsein verlor. Und letztlich sind die Folgen, dass seine Hände nicht mehr so funktionieren, wie es zuvor war. Manchmal gehorchen sie ihm nicht und er kann nicht mehr das Werkzeug ruhig halten. Deshalb gibt er Silberuhren nach Kiew in eine Goldschmiede, wo sie daraus Medaillen machen.

Er erzählte auch von den Wärtern. Einer von ihnen sei ein Banker aus Moskau gewesen, der seinen Aufenthalt im Donbass als „Safari“ verstand und entsprechend seine sadistischen Gelüste auslebte. Zwei weitere Wärter seien zwischenzeitlich tot, doch er wisse, dass dieser Banker noch am Leben sei. Wo sich dieser allerdings aufhalte, wäre ihm nicht bekannt.

Ein anderes Thema unserer Gespräche war das immer noch umkämpfte Industriegebiet in Awdijiwka. Er fährt ab und zu hin, um den dort stationierten Soldaten Sachen zu bringen. Dabei muss er durch ein Tor – den Eingang in dieses Industriegebiet. Dieses wird regelmäßig scharf beschossen, weshalb Schutzkleidung nötig ist. Wenn man schnell genug durch kommt, ist die nächste Hürde, aus dem Auto zu springen und in einem Graben zur eigentlichen Stellung vorzudringen. Krieg eben, wie er meinte…

Ich wusste, dass er auch in Deutschland war und Austauschprogramme für die Kinder aus dem Kriegsgebiet mitorganisiert. Er meinte, dass es ihn ablenkt, weil er dabei Verantwortung tragen muss. In ruhigen Tagen kann er nämlich nicht schlafen, weil ihn all diese Ereignisse stark beschäftigen und verfolgen. Auf psychologische Hilfe angesprochen, meinte er, wer das denn dort vor Ort anbieten könne und was es bringe.

Es war zwar unser erstes Gespräch, doch für mich war es nichts wirklich Neues. Und trotzdem ist jedes einzelne Schicksal, jede individuelle Erfahrung dann wieder etwas anderes und eine Facette dieses unbegreiflichen Wahnsinns. Der Krieg geht ins vierte Jahr und ich lernte in dieser Zeit viele Menschen kennen, die vor Ort waren. Selbst habe ich nur die Folgen gesehen und viele Male zugehört, was die Leute aus dem Gebiet erzählten. Was Beschuss heißt, kenne ich auch, obwohl ich das nicht mit dem vergleichen will, was mir andere berichteten.

All diese Ausnahmemenschen, wie ich sie nennen will, verdienen einen riesigen Respekt, denn bei ihnen finde ich eine Hilfsbereitschaft und Menschlichkeit, wie ich sie anderswo stark vermisse. Und immer, wenn ich mit ihnen zu tun habe, will ich ihnen ebenfalls etwas Gutes tun, will helfen, sie unterstützen und das in meinem Rahmen mögliche tun. In diesem Fall, entweder Journalisten finden, die sich für solche Geschichten interessieren, oder vielleicht ein Stipendium, um die Geschichten dieser Ausnahmemenschen zu sammeln, zu übersetzen und in einem Buch zu veröffentlichen. Letzteres scheint mir sogar eine würdigere Alternative zu sein, als ein kurzes Aufblitzen eines Artikels in den Medien.

Eine Nacht im Kinderheim (27./28.02.2017)

Eine Nacht im Kinderheim (27./28.02.2017)

Ein weiterer Grund meiner Reise nach Pokrowsk war das dortige Kinderheim. Von meinen letzten Besuchen im August und Oktober wusste ich, dass dort Möbel fehlen. Der Speisesaal hatte damals nur Tische, aber keine Stühle und in den Zimmern gab es Betten, aber keine Schränke. Ich wollte hierfür eigentlich Hilfe in Deutschland organisieren, doch da Alexej, der Heimleiter sehr aktiv ist und wenig Zeit hat, bekam ich nur schleppend Infos über den Bedarf. Ein persönliches Gespräch vor Ort erschien mir deshalb sinniger.

Als ich ankam und den Speisesaal sah, waren zwischenzeitlich Bürostühle vorhanden. Zwar nicht wirklich ideal, aber immerhin etwas. Die Stühle wurde von Soldaten gespendet. Und in einem Zimmer wurde eine Schrankwand eingebaut. Solche sollen nun nach und nach in den anderen Zimmern eingebaut werden, je nach finanziellen Möglichkeiten. Die Kosten belaufen sich auf mindestens 600 Euro pro Zimmer. Insgesamt gibt es noch 10 zu renovierende Zimmer. Außerdem wäre eine Videoüberwachungsanlage gut, für die zirka 1.500 Euro benötigt würden. Mit insgesamt zirka 7.000 Euro wäre hier sehr geholfen. Wirtschaften können sie mit der Summe selbst und den größtmöglichen Nutzen für das Heim daraus erzielen.

Die beiden Soldaten, die mit mir auf dem Zimmer waren, stellten sich als Mitglieder einer Spezialeinheit vor. Der eine sei Fahrer und überführte mit seinem Kollegen ein gepanzertes Militärfahrzeug aus dem Westen nach Marjinka. Als ich meinte, ich würde morgen nach Awdijiwka fahren, erzählten sie, dass auch in Marjinka geschossen würde. Auch Alexej, der Heimleiter, war kürzlich dort und berichtete von Beschuss. Hier muss ich hinzufügen, dass Pokrowsk nie unter „separatistischer Besatzung“ war und dort auch nicht geschossen wurde. Aber die Front ist nicht sehr weit entfernt.

Die beiden Soldaten wollten am nächsten Tag wieder zurück in die Westukraine, weil ihre Mission erledigt war. Sie brachen um 10 Uhr auf, während mein Tag um 9 Uhr begann.

Zuerst ging es zum Bahnhof, wo ich eine Fahrkarte für Mittwoch nach Kiew kaufte. Mir war bekannt, dass der Zug sehr früh ging, weil ich bereits das letzte Mal im Oktober die Strecke gefahren war. Immerhin gab es noch Plätze, denn die Strecke ist begehrt, wobei viele in Dnepropetrowsk (heißt heute Dnipro) zusteigen, um von dort bis nach Kiew zu fahren.

Nachdem die „technischen“ Angelegenheiten erledigt waren, fragte mich Alexander (der Fahrer, der auch im Kinderheim übernachtete), ob ich mit einem Freiwilligen in Pokrowsk ein Interview machen wolle, der seit Anfang des Kriegs Soldaten und Zivilisten unterstützt. Er kenne ihn deshalb, weil sie dort immer wieder ihren VW-Bus reparieren ließen. Meinerseits sprach nichts dagegen. Alexander rief ihn an und er machte aus, dass wir uns vor seinem Laden treffen, wo er Autoersatzteile verkauft.

Hier ist das Interview auf russisch unbearbeitet zum nachhören:

Interview in Pokrowsk (zirka 13 Minuten)

Nach dem Gespräch sprach ich mit Alexander, dem Fahrer. Er meinte, dass es viele junge Leute gibt, die so denken. In dieser Generation liege die Hoffnung. Danach fuhren wir nach Myrnohrad, um den anderen Alexander abzuholen und dann ging es nach Awdijiwka.

UNDP in Kramatorsk (26.02.2017)

UNDP in Kramatorsk (26.02.2017)

Kramatorsk liegt nur ein paar Kilometer südlich von Slowjansk, wo im Frühjahr 2014 bekanntlich der Krieg begann. Auch Kramatorsk war „besetzt“, wurde dann aber zusammen mit Slowjansk wieder „befreit“. Das allerdings ohne massive Schäden, wie es in Slowjansk der Fall war. Heute befinden sich in Kramatorsk mehrere Außenstellen großer Organisationen, wie zum Beispiel von der UNO, von der OSZE, oder von der ATO-Pressestelle. Die Lage ist für diese Organisationen deshalb interessant, weil sich Kramatorsk mit dem Zug von Kiew gut erreichen lässt (ca. 6 Stunden Fahrt mit einem Intercity oder länger mit einem regulären Nachtzug) und weil sich die Stadt unweit beider Oblaste (Luhansk und Donezk) befindet.

Die Freundin, die ich dort habe, fing im vergangenen Sommer beim UNDP, dem UN-Entwicklungsprogramm, zu arbeiten an. Wir kennen uns seit gut 10 Jahren vom Stammtisch und waren seither immer wieder in Kontakt. Sie studierte erst Fremdsprachen (darunter Deutsch), dann Friedens- und Konfliktforschung in Deutschland, war danach eine Weile am Hauptsitz der OSZE in Wien, dann in Brüssel bei der EU, und jetzt eben beim UNDP. Durch Erzählungen über ihre Erfahrungen bekam ich ein bisschen einen Einblick in die Arbeit dieser großen, internationalen Organisationen. Was sie gemeinsam haben: einen riesigen Berg an Bürokratismus, der Vor- und Nachteile hat.

Zur Arbeit des UNDP in Kramatorsk möchte ich nur ein bisschen etwas sagen, denn vieles ist noch im Prozess. Die Entwicklungsprogramme für die Region sehen vor allem wirtschaftliche Entwicklung vor, da ein Grundsatz der Konfliktvermeidung lautet, dass wenn es Menschen (egal wo) wirtschaftlich gut geht, sie weniger zu Konflikten neigen. Allerdings richten sich diese Programme kaum auf die Grauzone, weil es Unsinn wäre, dort etwas aufzubauen, das innerhalb kürzester Zeit wieder zerstört werden könnte. Die Grauzone ist der 15 Kilometer breite Bereich um die Kontaktlinie (die eigentliche Front).

In unseren Gesprächen kam immer wieder das Problem der Verantwortung vor, denn aus der Zeit des Kommunismus sind alle für alles verantwortlich, wobei „ich“ nicht alle bin. Man interessierte sich wenig um allgemeine Belange, sondern hauptsächlich nur um den eigenen Bereich. Ich möchte nicht sagen, dass es in anderen Staaten ohne „kommunistische Erfahrung“ so etwas nicht gibt, doch nach meinem Eindruck ist diese „Mentalität“ nicht so stark ausgeprägt. Selbst in der Ukraine unterscheidet sich dieses „Phänomen“ von Region zu Region. Dabei ist es im Donbass relativ stark. Die Menschen müssen dort erst lernen, dass sie selbst die Verantwortung über die gemeinschaftlichen Angelegenheiten ihrer Region tragen. Der bisherige Mangel macht auch die Dezentralisierung so schwierig, war mitunter Ursache des „Separatismus“ und hängt auch mit einer Art „Zar-Mentalität“ (dem Glauben an einen starken Führer, wie es sie im Donbass in Form von Oligarchen gab/gibt) zusammen. Eine weitere Auswirkung ist die Scheu vor dem Risiko, ein eigenes Kleinunternehmen zu gründen.

Bei all diesen Punkten setzt das UNDP also an, indem Schulungen organisiert werden, wie sich die Bürger in die Lokalpolitik einbringen und wie die Lokalpolitiker die Bürger besser einbeziehen können. Es gibt auch indirekte Wirtschaftshilfen, was heißt, dass die Geldgeber über Mittler den Aufbau der Lokalwirtschaft fördern.

Eigentlich geht es hauptsächlich darum, Eigenentwicklung zu ermöglichen und zu fördern. Kurz: „Hilfe zur Selbsthilfe“, bzw. das bekannte Fischbeispiel: „Gebe einem Bedürftigen keinen Fisch, sondern lehre ihn das Fischen.“

Konspirative Treffen (21.02.2017)

Konspirative Treffen (21.02.2017)

Eigentlich fing alles ganz harmlos an. Die letzten Tage hatte ich immer wieder über die Blockade in der Ostukraine übersetzt und las auch sehr interessante Artikel in deutschen Medien (in der FAZ von Konrad Schuller, im Ukrainer Forum ebenfalls aus der FAZ von Konrad Schuller, und im Deutschlandfunk). Bei YouTube sah ich ein Video von Michail Saakaschwili, der vor Ort war. Deshalb wollte ich herausfinden, wie ein Journalist eigentlich zu den Blockaden in der Ostukraine kommt. Dazu fragte ich ein paar Freunde, die Kontakt zu ATOschniks haben. Gestern bekam ich dann eine Handynummer, wo ich heute anrufen sollte. Doch statt mir die Frage einfach zu beantworten, bekam ich eine Einladung, mich mit der Person zu treffen.

Da ich sowieso in die Stadt musste, um endlich die fertige Aufenthaltsgenehmigung mit der Registrierung abzuholen, verabredeten wir uns zur Mittagszeit. Mein Termin ging flotter als erwartet und als ich ihn nochmals anrief, wurde mir der Treffpunkt mitgeteilt, allerdings erst in einer Stunde. Das war zu Fuß ein gutes Stück zu laufen, aber mir war trotz Schneeregen danach. Dort angekommen, sollte ich mich in ein Cafe setzen und auf ihn warten.

Es vergingen zirka 45 Minuten, bis er endlich kam. Wir stellten uns vor und er erzählte, dass er selbst in der ATO kämpfte. Er meinte, dass bald noch jemand kommt, mit dem ich über die Blockade sprechen könnte. Das sei ein Berater von Awakow (Innenminister) und könne mir viel über die Blockade berichten. Währendessen zeigte er mir Bilder seines Einsatzes, sowie Videos. Dort war die vorderste Front zu sehen – auf der einen Flussseite die ukrainische Flagge, auf der anderen eine Flagge von Russland und die der „LNR“. Dann kam, wie ein ukrainischer Scharfschütze (vor Minsk-II) das Feuer auf den Gegner auf der anderen Flussseite eröffnete. Wie nebenbei meinte meine Kontaktperson, dass der Scharfschütze nicht mehr am Leben sei, als ob es das normalste der Welt wäre, wenn Menschen im Krieg sterben.

Nach zirka einer halben Stunde kam dann der angekündigte Berater. Eine angenehme Person, die mir bereitwillig berichtete und auf meine Fragen einging. Er wollte von mir wissen, ob ich mit seinem ukrainisch klar komme, was ich mit „trochi“ (ein bisschen) beantwortete. Problemlos stellte er auf russisch um. Vieles deckte sich mit dem, was ich bereits in meinen Übersetzungen und den Artikeln erfahren hatte, wobei ich den Eindruck bekam, es handle sich eben weitgehendst um die Position der Regierung.

Dann kam noch jemand, den nur der Berater kannte. Er war gerade in Kiew auf Fronturlaub und meine Kontaktperson und er unterhielten sich, als ob sie sich schon seit Ewigkeiten kennen. Für einen Außenstehenden wie mich war manches nicht nachvollziehbar und als ich fragte, ob sie sich schon länger kennen, meinten sie, nein, sie träfen sich heute zum ersten Mal, aber die ATO-Erfahrung verbinde eben.

Auf meine Frage, ob sie denken, dass ihr Feind Russen waren, lachten sie. Sicher kämpften auf der anderen Seite Russen, schließlich hatten sie selbst welche gefangen genommen, die dann später „eingetauscht“ wurden. Allerdings gäbe es auch viele Drogenabhängige und Obdachlose, denen man Waffen in die Hand drückte. Selbst für die Bedienung der Militärtechnik meinten sie, gäbe es auch „Einheimische“, die im Afghanistankrieg waren oder Militärdienst leisteten. Die Russen würden eher hinter diesem Kanonenfutter stehen.

Nach gut einer Stunde musste der Berater aufbrechen und meine Kontaktperson meinte, er bringe mich mit seinem Auto zur nächsten Metro-Station. Im Fahrzeug sprachen wir weiter. Er selbst stammte eigentlich aus Armenien. Er meinte, er habe bereits als Kind den dortigen Krieg miterlebt. Dann später, als er nach Georgien flüchtete, sah er wieder den Krieg um Abchasien. Und jetzt, hier in der Ukraine, wieder Krieg… Als ob ihn die Kampfhandlungen verfolgten. Dabei sagte er, dass Krieg schmutzig und blutig ist, und nichts heldenhaftes an sich hat. Die ATOschniki verstehen sich untereinander deshalb, weil sie ähnliche Erfahrungen haben.

Er meinte, dass wir uns am Abend noch einmal treffen können. Dann hätte ich die Möglichkeit, mit jemandem zu sprechen, der den Polizeichef berät. Mir drehte sich zwar schon wegen des Treffens vom Mittag der Kopf, aber bis Abend dachte ich, würde ich das verarbeitet haben. Also sagte ich zu, auch, um nicht unhöflich zu sein. Mir schien nämlich, dass sie alle ein Mitteilungsbedürfnis hatten, weil sie nur untereinander über all diese Dinge sprechen.

So fuhr ich nach Hause, um etwas zu essen und machte mich alsbald wieder auf den Weg zu einem anderen Cafe. Ich wartete draußen, weil ich etwas zu früh kam. Dann klingelte mein Handy und meine Kontaktperson meinte, ich solle in das Cafe gehen, wo der Berater bereits säße; er selbst verspäte sich.

Drinnen erkannte mich der Berater und wir begrüßten uns. Auch er erklärte mir sehr bereitwillig, was es mit den Blockaden genauer auf sich habe. Diesmal aber weit neben einer regierungsfreundlichen Darstellung, was die Möglichkeit eröffnete, den Sachverhalt globaler zu diskutieren. Dabei kam auch die Situation in der EU zur Sprache und dass die Ukraine eigentlich nichts erwarten solle, sondern selbst mit ihren Problemen klarkommen müsse. Die EU habe mit sich selbst zu kämpfen, was unter anderem Russland ausnutze.

Wir sprachen gut zwei Stunden, bis der Berater aufbrechen musste. Und so lösten wir unser Treffen auf. Zum Abschied fragte ich dann noch meine Kontaktperson, ob er eigentlich mit dem zivilen Leben klar komme oder ob er „Probleme“ merke. Sehr offen gab er zu, dass es schwierig sei. Er habe zwei kleine Kinder und mache sich Sorgen. Wer behaupte, er habe im Krieg an der Front keine Angst, der lüge. Auffällig für mich war, dass er meinte, ihm mache es nichts aus, Menschen getötet zu haben. Daran hätten andere stärker zu knabbern.

Statt direkt mit der Metro wieder nach Hause zu fahren, ging ich die Institutskaja bei Nacht hinunter, über den Maidan bis zu einer mir passenden Metrostation. Bei dem Spaziergang versuchte ich die Informationen zu verarbeiten, die mir über den Tag verteilt gegeben wurden. Dabei stellte ich fest, dass ich eigentlich nicht erfahren hatte, wie ein Journalist zu den Blockaden kommt. Dafür erhielt ich zwei Meinungsbilder über die Blockaden und die Situation im Land, die ich in solchen Kreisen nicht vermutet hätte. Außerdem gaben mir die Treffen auch einen Einblick in das Leben der ATOschniks.

Die letzten Tage von 2016 in Transkarpatien (28.-30.12.2016)

Die letzten Tage von 2016 in Transkarpatien (28.-30.12.2016)

Den Grundstein meiner Reise über Neujahr legte ich mir selbst im November 2016. Als ich im ukrainischen Konsulat in Düsseldorf das Visum beantragte, fragte der Konsul, wann ich einreisen wolle. Ich meinte, am 7. Dezember, doch die Einladung war auf den 1. Januar 2017 datiert. Er meinte, dass das Probleme geben könnte, wenn ich bereits vor der Visumsgültigkeit in der Ukraine wäre und er es auch früher ausstellen könne. Doch ich war der Meinung, ich könne den Rest der 90 Tage noch in der Ukraine sein und dann die Prozedur für das Visum im Land ohne erneute Einreise erledigen. Deshalb sagte ich ihm, er solle das Visum ab dem 1. Januar 2017 ausstellen. Das Visum gilt für 45 Tage und sieht eine einmalige Einreise vor. Innerhalb dieser Zeit müssen alle Formalitäten erledigt werden, um dann eine einjährige Aufenthaltsgenehmigung zu erhalten. Im Folgejahr kann diese dann im Land selbst verlängert werden.

In Kiew wurde mir dann von Juristen erklärt, dass ich zur Aktivierung des Visums nochmals das Land verlassen müsse und während der Visumsgültigkeit wieder einreisen könne, um es zu aktivieren. Das war am 27. Dezember. Also stellte sich die Frage, wohin ich reisen werde. Erst dachte ich, nach Przemyschl, wo ich bereits häufig war, weil ich dorthin früher oft fuhr, um die 90-Tage-Regelung zu „reaktivieren“ (bevor die Verschärfung kam, dass die 90 Tage nur innerhalb von 180 Tagen gilt). Zu meinem Glück wurde vor Kurzem sogar ein Schnellzug nach Przemyschl in Betrieb genommen, doch gab es weder für den 30. Dezember, noch für den 31. Dezember einen Platz. Viele nutzten wohl den Zug, der auch in Lwiw hält, um dorthin zu reisen.

Eine weitere Alternative wäre gewesen, am 31. Dezember nach Vilnius zu fliegen, und am 3. Januar zurück. Doch als ich Klaus und Yulia davon erzählte, meinten die beiden, sie müssten über Neujahr nach Uschgorod und würden sich freuen, wenn wir uns dort treffen. Schließlich verbrachte ich fast das ganze Jahr in Deutschland bei ihnen. Hintergrund ihrer Reise war, dass die Mutter von Yulia sterbenskrank im Krankenhaus von Uschgorod lag und es vielleicht das letzte Mal sei, sie noch lebend zu treffen. Vom 31. Dezember auf den 1. Januar könnten wir von Uschgorod in die Ostslowakei und dann zurück, damit ich das Visum aktiviere.

Diesem Plan stimmte ich dann zu und nahm am 28. Dezember gegen Abend die 15-stündige Zugfahrt über Nacht auf mich.

Mit mir im Abteil war ein junger Mann, der zufällig öfters in Deutschland auf Montage ist. Deutsch konnte er zwar nicht, aber eine Mischung aus russisch und ukrainisch. Er meinte, dass Transkarpatien wohl die schönste Region auf der Welt sei. Ich war dort noch nie und hatte bislang nur Bilder gesehen. Aber es stimmte mich neugierig.

Außerdem unterhielten wir uns über den Krieg, an dem er selbst nicht teilnahm, aber als Freiwilliger mehrere Hilfslieferungen in Frontnähe brachte. Schon zu Maidan-Zeiten, so erzählte er, fuhren seine Freunde mit ihm nach Kiew. Davon präsentierte er mir Bilder, verstummte allerdings, als ich meine Bilder aus dem Donbass zeigte.

Er stieg in Mukatschewe aus; für mich ging es noch weiter bis nach Uschgorod.

Dort angekommen, ging ich vom Bahnhof zu Fuß zum Hotel. Die beiden waren zur Mittagszeit noch nicht da, weshalb ich mich erst einmal nach der langen Fahrt hinlegte und einschlief. Gegen Spätnachmittag klingelte dann das Telefon und Klaus meinte, sie seien nun da. Also ging ich zu ihnen ins Zimmer und fuhren dann zusammen ins Krankenhaus.

In dem Krankenhausgebäude war es relativ ruhig, was wir auf die Feierlichkeiten zum Neujahr zurückführten. In dem Stock, wo Yulias Mutter lag, gab es einen „Aufenthaltsraum“, wo zwei Männer Fernsehen schauten. Dort setzte ich mich dazu und ließ Klaus mit Yulia allein zu ihrer Mutter.

Krankenhaus in Uschgorod
Krankenhaus in Uschgorod

Nach ein paar Minuten kam Klaus und berichtete von den erbärmlichen Zuständen im Krankenzimmer. Als wir schweigend auf den Boden starrten, meinte Klaus zu mir, ob das gerade eine Kakerlake war. Tatsächlich krabbelte das Ding zwischen den Füßen eines Patienten auf dem Boden umher. Irgendwie kein Wunder, denn unter dem Weihnachtsbaum stand ein Eimer mit Essensresten, die noch nicht entsorgt wurden.

Als Yulia dann zurückkam, konnte sie auch nicht wirklich näheres berichten, was eigentlich mit ihrer Mutter los sei. Sie solle am nächsten Tag um 8 Uhr wieder kommen, da dann der behandelnde Arzt im Haus wäre.

So fuhren wir also wieder in die Stadt, gingen etwas bummeln, wobei die Beiden noch Erledigungen machten. Danach kehrten wir in einem Lokal ein, um etwas zu Abend zu essen, bevor es zurück ins Hotel ging.

Für den nächsten Tag verabredeten wir, dass sie früh am Morgen nochmals ins Krankenhaus gehen und ich mir die Stadt anschaue (meine Bilder). Gegen Mittag trafen wir uns dann in einem Lokal. Yulia erzählte, dass sie den Arzt sie zwar getroffen hatte, aber dass er nicht wirklich Auskunft geben konnte oder wollte. Außerdem wurden alle Kranken aus dem Stock im Krankenhaus in ein anderes Gebäude verlegten, damit der Kammerjäger das Ungeziefer beseitigen könne. Dieser Transport fand in der Kälte über Eis und Schnee auf einer fahrbaren Pritsche statt. Für deutsche Vorstellungen ein unglaubliches Unterfangen.

Nach einem kurzen Essen fuhren wir dann gemeinsam über Mukatschewe nach Berehowe, die Heimatstadt von Yulia, an der ungarischen Grenze. Dort hatte Yulia bereits angefragt, ob es eine Möglichkeit gibt, ihre Mutter in einem Altenheim unterzubringen. Eine Nachbarin hatte dabei geholfen. Wir trafen sie in der Nähe des Hauses, wo Yulia aufgewachsen war und diese Nachbarin zeigte Klaus dann den Weg zum Altersheim.

Ich wollte nicht mit rein und wartete draußen. Nach ein paar Minuten kamen die drei wieder und meinten, dass Yulias Mutter aufgenommen würde. Allerdings sei es dort nicht unbedingt die beste Situation, doch wohl die, für ukrainische Verhältnisse, beste Lösung, die man auf die Schnelle finden könne.

Wir brachten die Nachbarin wieder nach Hause; Yulia kümmerte sich kurz ums Haus und dann fuhren wir ohne die Nachbarin über Mukatschewe zurück. In Mukatschewe machten wir Halt und besichtigten die dortige Burg (hier Bilder davon).

Abends waren wir wieder in Uschgorod, gingen zusammen Essen und dann ins Hotel. Am nächsten Tag, Silvester, wollten wir über die Grenze in die Ostslowakei, damit ich rechtzeitig aus der Ukraine ausreise, um das Visum am nächsten Tag zu aktivieren. Hierzu später mehr…

Kinder Maidantschik (19.12.2016)

Kinder Maidantschik (19.12.2016)

Kurz vor dem „europäischen“ Weihnachten war ich mit Freunden auf dem Kiewer Weihnachtsmarkt rund um die Sophienkathedrale. Davor besuchten die beiden Damen am ukrainischen Barbara-Tag die Wladimir-Kirche in der Nähe der Metrostation „Universität“. Ich wartete draußen und beobachtete die Kirchgänger. Teils aufgetakelte junge Frauen gingen über das Glatteis vor der Kirche in ihren Stöckelschuhen hinein, um wenige Zeit später wieder herauszukommen, sich nochmals dem Eingang zuzuwendend, der christlich-orthodoxen Tradition entsprechend, dreimal zu bekreuzigen. Mir ging dabei durch den Kopf, bei all dem Leid, das ich im Donbass sah, wie es eigentlich die immer noch existierenden korrupten Staatsdiener in dieser Zeit handhaben, die doch auch öffentlichkeitswirksam solche Rituale durchführen. Sehen sie ihr Verhalten überhaupt als „unmoralisch“ oder ist ihnen ihr Tun bewusst? Ich kenne einfach zu viele, die am Existenzminimum enormes leisten und frage mich bei solchen Gelegenheiten, wie es jene mit ihrem Gewissen vereinbaren, wenn sie ihre Position dazu nutzen, sich zu bereichern und der Gesellschaft damit schaden. Zählen für sie andere Menschen überhaupt?

Nachdem meine beiden Begleiterinnen wieder herauskamen, gingen wir zum Weihnachtsmarkt. Eigentlich hieß es, die Lichter des Weihnachtsbaums würden an dem Tag angemacht, doch das war eine Fehlinformation. So schlenderten wir an den Buden entlang, die Kleinkram, Essen, Tee oder Glühwein feilboten. Und da eine der beiden Freundinnen sah, wie jemand direkt aus dem Kelch den angebotenen Glühwein zum Probieren bekam, verging ihr die Lust darauf, selbst ein solches Getränk zu bestellen. Ihr war es zu unhygienisch.

Vor dem St. Michaelskloster, das während des Euromaidan eine Hilfsstätte für verletzte und durchgefrorene Demonstranten war, hatte die italienische Firma „Ferrero“ ein kleines Lager aufgebaut und es „Kinder Maidantschik“ genannt – die Verniedlichungsform von „Maidan“. Dort konnte man sich vor der Marke „Kinder“ fotografieren lassen und irgendwelche Attraktionen bewundern. Mir ging dabei durch den Kopf, wie man die „Revolution der Würde“, bei der Menschen starben, so verkommerzialisieren kann. An dem Tag kam mir keine weihnachtliche Stimmung auf und letztlich war ich froh, als ich wieder bei mir zu Hause war.

Tschernobyl – Kurzreise in die Ukraine (27.-30.11.2016)

Tschernobyl – Kurzreise in die Ukraine (27.-30.11.2016)

Anfang November erreichte mich eine Meldung, dass die Europäische Bank für Wiederaufbau und Entwicklung (EBRD) zur Fertigstellung der neuen Schutzhülle von Tschernobyl einlädt. Eigentlich wartete ich zu dem Zeitpunkt noch auf das Visum für die Ukraine, da ich meinen Umzug zurück nach Kiew für Anfang Dezember 2016 plante. Doch irgendwie reizte es mich, dieses Angebot anzunehmen, weshalb ich spontan einen günstigen Flug buchte und mich anmeldete.

Also flog ich am 27. November nach Kiew und kehrte heute, am 30. November zurück. Am 28. November hatte ich morgens einen Interviewtermin mit Herrn Balthasar Lindauer, dem stellvertretenden Direktor des „Chernobyl Shelter Fund“. Danach musste ich für eine Freundin etwas erledigen, ging dann zum Ukraine Crisis Media Center, um zu fragen, ob sie den Interviewtext veröffentlichen (was noch passieren wird).

Als das erledigt war, fuhr ich auf dem Rückweg zu meiner Wohnung bei Freunden vorbei, um dort noch etwas zu Euromaidan Press zu besprechen. Gegen 16 Uhr hatte ich dann zwei Stunden Zeit, das aufgezeichnete Interview abzutippen, denn um 18 Uhr sollte es zu einem informellen Abendessen mit Vertretern des Tschernobyl-Projekts gehen.

Bis auf den letzten Abschnitt schaffte ich es tatsächlich, die grobe Variante des Interviews zu tippen. Dann musste ich los und traf pünktlich um 19 Uhr im Restaurant ein.

Das Essen war von der EBRD gesponsort und zufällig saß ich neben Hans Blix aus Schweden. Er war von 1981 bis 1997 Direktor der Internationalen Atomenergie-Organisation (IAEO) und besichtigte am 5. Mai 1986 als einer der ersten westlichen Wissenschaftler den Unglücksort von Tschernobyl. Das fand ich erst später heraus.

Herr Blix sprach mich irgendwann an und schimpfte über Trump. Dann wurde das Gespräch kurz unterbrochen, weil es eine Ansprache gab, die der Direktor des „Chernobyl Shelter Fund“ hielt und eben Herrn Blix für sein Engagement lobte. Ich musste schlucken, als mir bewusst wurde, wer neben mir saß.

Herr Blix erwies sich als sehr angenehmer und offener älterer Herr, bei dem ich das Gefühl hatte, nicht von oben herab betrachtet zu werden, sondern mit realem Interesse für meine Person. In unseren Gesprächen erzählte mir Herr Blix, dass er sehr viel auf der Welt unterwegs war und viele Politiker traf..

Auf meine Frage, wie sich Politiker von „Normalsterblichen“ unterscheiden, meinte er, dass Politikern oftmals die ihnen verliehene Macht zu Kopfe stiegen. Er erzählte, dass die alten Römer versuchten, ihre Politiker auf dem Teppich zu halten. Auch für Putin fand er klare Worte, wobei diese nicht beschuldigend klangen. Janukowitsch hatte er einmal persönlich getroffen und mochte ihn nicht, weil er sehr autoritär auf ihn wirkte. Poroschenko sei da zwar anders, doch der wirke so, dass er sehr auf Publicity aus sei. Mehr möchte ich zu diesen Gesprächen nicht schreiben.

Es waren auch andere Journalisten anwesend. Es war interessant, zu hören und zu sehen, wie sie sich an diesem Abend verhielten. In diesem Jahr lernte ich aus diesen Kreisen einige kennen, doch eher nur aus Deutschland. Hier war es international.

Gegen 22 Uhr war das Abendessen dann auch vorbei und ich fuhr nach Hause, um noch das Interview fertig abzutippen. Am nächsten Morgen sollte es gegen 7 Uhr nach Prypjat und Tschernobyl gehen.

Die Leute waren zwar pünktlich an dem verabredeten Punkt, doch es gab irgendein Missverständnis bezüglich der Busse. Für die ausländischen Journalisten waren eigentlich zwei vorgesehen, aber letztlich wurden alle in einen gepfercht. Die Fahrt startete dann auch nicht um 7 Uhr, sondern mit fast einer Stunde Verspätung.

Ich nahm mein Notebook mit, um während der Fahrt das englische Interview auf deutsch zu übersetzen. Das klappte ganz gut. Neben mir saß ein Franzose, der sich mit einem Engländer unterhielt. Sie sprachen über Marjinka und Krasnogorowka, wo einer wohl kürzlich war. Einerseits fand ich das interessant, aber andererseits war mir nicht danach, in das Gespräch einzusteigen. Jeder erlebt diese Gegend anders.

Nach fast zwei Stunden kamen wir am Checkpoint zur Sperrzone an. Wir wurden die ganze Fahrt über von einem Polizeiauto eskortiert, das mit Blaulicht vor uns herfuhr. Vielleicht gab es deshalb an dem Checkpoint auch keine Passkontrolle.

Da es in der Nacht zu schneien begonnen hatte, lag natürlich auch in der Sperrzone überall Schnee. Der Straßenrand war durch einen Wald gesäumt, doch darin sah man schemenhaft die Silhouetten von verlassenen Häusern. Teilweise wuchsen daraus Bäume, teilweise waren sie durch heruntergefallene Äste beschädigt und insgesamt zerfallen. Die Lichtverhältnisse verstärkten bei dem Schneegestöber den apokalyptischen Eindruck.

Kurze Zeit später waren wir in Prypjat, wobei uns nur zirka 20 Minuten gegeben wurden, um ein paar Bilder zu machen. Es sollte schnell zum eigentlichen Veranstaltungsort nach Tschernobyl weiter gehen: vor den Reaktorblock Nummer 4, der nun mit dem neuen Sarkophag verdeckt wurde.

Dort angekommen, sammelten sich die angekarrten Journalisten vor der Sicherheitskontrolle. Poroschenko sollte kommen, was auch die Soldaten an den Nebenstraßen in der Sperrzone erklärte. Normalerweise stünde dort niemand, wie mir erklärt wurde.

Endlich im vorgewärmten Veranstaltungszelt angekommen, stellte ich mich neben eine Heizanlage und taute langsam wieder auf. An mir gingen mehrere Leute vorbei, die ich bereits am Vortag bei dem Abendessen traf, aber auch Personen, die ich eigentlich nur aus dem Fernsehen „kannte“.

Als dann endlich Poroschenko eintraf, ging auch die eigentliche Veranstaltung los. Es wurde sich für die Fertigstellung des Monstrums im Hintergrund auf die Schultern geklopft und allen gedankt, die daran mitwirkten. Die EBRD war nicht nur der Finanzverwalter des Projekts, sondern auch ein wesentlicher Beitragszahler. So sprach also auch deren Direktor, sowie Herr Blix und dann Poroschenko.

Letztlich wurden Medaillen für Personen vergeben, die sich an der Folgenbeseitigung des Unglücks verdient gemacht hatten. Dann gab es einen Buffet, wobei mir absolut nicht nach Essen zu Mute war und ich lieber draußen rauchen ging.

Um 14 Uhr sollte es dann zurück nach Kiew gehen. Doch wieder verspätete sich die Abfahrt, so dass wir erst gegen 15 Uhr loskamen und wieder von der Polizei eskortiert Kiew nach 18 Uhr erreichten. Zwischenzeitlich hatte ich allerdings eine Anfrage bekommen, wann ich meinen Artikel schicken würde. Das basierte aber auch auf einem Missverständnis, denn ich hatte zwar einen Artikel im Vorfeld angeboten, aber dann nichts mehr gehört. Zeitlich war es unmöglich, noch irgendetwas während der Fahrt zu schreiben, weshalb ich einen vorbereiteten Text abschickte, der allerdings nicht den Kriterien entsprach, die vereinbart waren.

Erst gegen 20 Uhr war ich dann wieder zu Hause und wollte so schnell wie möglich ins Bett. Heute morgen ging es nämlich um 9 Uhr Richtung Flughafen los und von dort für dieses Jahr das letzte Mal nach Deutschland.

Rückkehr aus dem Donbass und bei den ATO-Goldschmieden (27.10.2016)

Rückkehr aus dem Donbass und bei den ATO-Goldschmieden (27.10.2016)

Am Samstag, den 22. Oktober, ging es also früh morgens zurück nach Kiew. Alexander, der Fahrer, brachte mich zum Bahnhof. Die Verabschiedung fiel herzlich aus und er meinte, wenn ich irgendetwas brauche oder in Schwierigkeiten sei, solle ich mich melden. Auf der 8-stündigen Fahrt ging mir durch den Kopf, was ich erlebt hatte. Ich spürte keinen Stolz, dass ich auf eigene Faust, völlig allein und ohne klares Ziel, im Donbass war, sondern überlegte, was ich aus den Eindrücken machen werde und wie ich diesen Menschen, die dort unglaubliches leisten, helfen kann.

In Kiew angekommen, schrieb ich einer Freundin aus Deutschland, von der ich wusste, dass sie in der gleichen Woche auch in der ATO-Zone war. Mir war allerdings nicht bekannt, ob sie bereits zurück nach Deutschland ging. Sie antwortete, dass sie am 23. Oktober von Schuljany, dem innerstädtischen Flughafen von Kiew, zurück nach Deutschland fliegt und wir machten aus, uns dort wenigstens kurz zu treffen.

Also fuhr ich am Sonntag mit dem Bus zum Flughafen, wo sie bereits wartete. Sie war in der Umgebung von Kramatorsk unterwegs, um dort mit einer Gruppe ehemalige „Gefängnisse“ der „Separatisten“ zu besuchen und Verbrechen gegen Menschenrechte aufzuklären. Wir unterhielten uns über unsere Erlebnisse, die relativ ähnlich waren und die wir doch mit unterschiedlicher Intension gemacht hatten.

Nach einer Stunde musste sie dann los zum Abfluggate und ich fuhr mit dem Bus zurück in die Richtung, wo ich in Kiew wohne. Das ist bei Babyn Jar, der Schlucht, wo Deutsche 1941 nach der Eroberung von Kiew fast 34.000 ukrainische Juden umgebrachten. Zum 75. Gedenktag wurde der heutige Park restauriert, was ich bisher nicht gesehen hatte. Da es in meiner Wohnung sowieso kalt war und ich auch etwas Abstand von meiner Reise in den Donbass wollte, ging ich dort spazieren (Bilder).

Danach, wieder in meiner Wohnung, verfasste ich einen Gesamtbericht zu meiner Reise in den Donbass (hier).

Am Montag, den 24. Oktober, hatte ich dann wieder Übersetzungen zu erledigen, weshalb mir keine Zeit blieb, mehr zu schreiben. Erst an den nächsten Tagen fing ich an, jeweils Berichte zu den einzelnen Stationen im Donbass zu tippen. Nebenher sortierte ich die vielen Bilder, wobei mir auch Alexander (der Pastor) seine Bilder schickte.

Noch in Kramatorsk (am 17.10.2016) sah ich, wie Eduard in seiner Wohnung mit Marina Silberkettchen zusammensuchten. Eines seiner Hobbys ist, alte Uhren zu restaurieren, die ebenfalls Silbergehäuse hatten. Dieses Silber sollte zu einer Goldschmiede nach Kiew, wo es eingeschmolzen wird, um daraus „Orden“ für die ATO-Kämpfer zu gießen.

Da ich vor über 10 Jahren selbst Silber als letzte Notreserve kaufte, wollte ich einen Teil davon abgeben. Eduard schrieb mir am 26. Oktober, wo sich die Goldschmiede befindet. Das war zirka 30 Minuten von mir zu Fuß entfernt. Am nächsten Tag rief ich dort an und machte mich kurz nach Mittag auf den Weg.

An der Adresse angekommen, stand ich vor einem Gebäude von KiewGaz. Ich ging hinein und fragte, wo sich die Goldschmiede befindet, was der Wachmann am Eingang nicht wusste und mich in den 3. Stock (ukrainische Zählung) schickte. Oftmals werden nämlich solche Gebäude mehrfach genutzt und es befinden sich die unterschiedlichsten Gewerbe darin.

Doch in dieser Etage wusste auch niemand etwas von einer Goldschmiede, weshalb ich nochmals anrief. Es hieß, dass ich schon richtig sei, aber vor dem Eingang warten solle. Mein Ansprechpartner wollte mich abholen und kam tatsächlich wenige Minuten später. Wir gingen zusammen in einen Hinterhof, wo sich eine Art Garage befand, in der die Goldschmiede untergebracht war. Sie arbeiten dort zu Dritt.

Sie zeigten mir, wie sie die Orden herstellen und im Gespräch erfuhr ich, dass sie Eduard eigentlich gar nicht persönlich kennen. Sie selbst waren nie im Donbass, also auch nicht im Krieg, doch sie wollten helfen. Viel Geld hätten sie nicht, aber da sie bereits vor der Revolution und dem Krieg schon Silberschmuck und Souvenirs aus Silber herstellten, wollten sie mit ihrem Können einen Beitrag leisten.

Auf meine Frage, was sie von dem Krieg insgesamt halten, antworteten sie, dass es sich nach ihrer Meinung um ein politisches Spiel handelt, bei dem gewisse Leute ihre Interessen vertreten und daran auch verdienen. Die einfachen Menschen und Soldaten hätten damit eigentlich nichts zu tun. Selbst in Russland gäbe es normale Menschen, die durch die mediale Propaganda „verseucht“ seien. Russenhass? Fehlanzeige.

Diese Auffassung hörte ich auch im Donbass sehr oft und sie klingt eigentlich auch vernünftig. Allerdings war mir auch der Hass auf die gegnerischen Kämpfer bekannt, der daher rührte, dass sie in dem Spiel mitmachten und nicht einsehen wollten, instrumentalisiert zu werden. Auf ukrainischer Seite würden sie zumindest ihr Land verteidigen.

Nach der Übergabe des Silbers erhielt ich von den Goldschmieden selbst einen kleinen Orden in einer Schatulle, wofür ich mich sehr bedankte. Außerdem rief mich Alexander (der Fahrer im Donbass) an, um sich zu erkundigen, wie es mir geht. Er selbst war gerade in Lwiw in der Westukraine. Alles in Ordnung!

Während des Besuchs in der Goldschmiede machte ich ein paar Bilder und verabschiedete mich nach knapp 30 Minuten wieder. Auf meinem Rückweg dachte ich über den Irrsinn dieses Krieges nach, durch den immer noch Menschen sterben oder verwundet werden.

Wieder in der Wohnung angekommen, merkte ich, dass wenigstens die Heizkörper warm waren, was es einfacher machte, am Computer zu sitzen und die Berichte zu verfassen.

Über die „Respublika Mist“ nach Awdijiwka (21.10.2016)

Über die „Respublika Mist“ nach Awdijiwka (21.10.2016)

Ursprünglich wollte mir Alexander eigentlich Pisky zeigen, wo es eine Kirche gab, die unter dem Beschuss stark gelitten hatte. Allerdings erkundigte er sich wie jeden morgen, bevor wir tiefer ins Kriegsgebiet fuhren, nach der Lage und es hieß, dass es zu gefährlich sei, dorthin zu fahren. Deshalb ging es nur bis zum Checkpoint kurz vor Pisky, der von jedem dort „Respublika Mist“ („Republik Brück“) genannt wird.

Pisky selbst liegt kurz dahinter auf dem Weg zum Donezker Flughafen und ist immer noch stark umkämpft. Videos von dort (zum Beispiel ein Video vom Juni 2016) zeigen die enorme Zerstörung – einschließlich der Kirche (Foto).

Als ich im August schon einmal dort war und von dieser „Respublika“ hörte, dachte ich, das sei eine Verballhornung der selbsternannten „Volksrepubliken“ und die Ukrainer würden Humor zeigen. So beginnt eine Videoreportage über den Blockpost, wie die Checkpoints eigentlich heißen, mit den Worten: „Auf der Karte der ATO erschien eine weitere Republik…“ Tatsächlich haben viele Blockposts Namen. So auch einer, der an einer Bushaltestelle liegt, die wie ein riesiges Straussenei aussieht – das ist der Blockpost „Jaizo“ („Ei“).

Auf dem Weg zur „Respublika Mist“ fährt man an einem zerstörten ukrainischen Panzer vorbei. Die Straße, die direkt auf den Blockpost zuführt und eigentlich durch das Dorf Perwomajske geht, ist von zerstörten Häusern umgeben (meine Bilder). In dem Dorf selbst leben immer noch Menschen. Auf ukrainischer Seite, wo wir waren, hörte man zwar das mittlerweile gewohnte Maschinengewehrknattern und Geschützdonner, aber das aus einiger Entfernung – aus Pisky.

Am Blockpost selbst sind nicht mehr so viele Soldaten. Ich sprach auch nicht mit ihnen. Zwar hatte ich eine Akkreditierung für die ATO-Zone, aber für dieses militärisch wichtige Objekt, brauchte ich eine Sondergenehmigung des ATO-Stabs, was ich nicht beantragte. Und um ehrlich zu sein, ich hätte auch gar nicht gewusst, was ich fragen sollte. Im Sommer war selbst Petro Poroschenko dort, worüber in ukrainischen Medien ausführlich berichtet wurde (ein Video).

Der Checkpoint liegt unter einer Brücke, deren Bau bereits vor dem Krieg begann, aber nie fertig gestellt wurde. Davor führt eine Straße links weg, worüber man eigentlich nach Awdijiwka kommen kann. Doch die Soldaten am Blockpost meinten, wir sollten dort nicht fahren, da der Weg immer wieder unter Beschuss stünde.

Nach unserer Fotosession, wie es viele Fotografen und Journalisten dort vornehmen, weshalb diese „Republik“ heute eher ein „Touristenziel“ ist, fuhren wir also zurück und nahmen einen anderen Weg Richtung Awdijiwka.

Kurz vor der Stadt sahen wir ein brennendes Haus. Das war allerdings nicht durch Beschuss in Brand geraten, sondern anderweitig. Ein relativ neues Feuerwehrauto stand davor und begann zu löschen. Ein weiteres kam aus Awdijiwka. Ich dachte nur, dass wir uns hier im Kriegsgebiet befinden, aber selbst für solche Fälle muss vorgesorgt sein. Es war alles so surreal, denn woran erkannte ich eigentlich, dass wir uns in einer der „heißeren Zonen“ aufhielten? An den „Kriegsgeräuschen“ – verursacht von Maschinengewehren, Mörsern, Granatwerfern, Artillerie? An den Kriegsschäden? Letzteres nicht wirklich, denn in manchen Dörfern der Ukraine, die ich fern ab vom Krieg sah, machten ebenfalls den Eindruck, als hätten Bomben eingeschlagen – doch dort zerfielen die Häuser einfach.

In Awdijiwka selbst, machten wir kurz nach dem Blockpost Halt, wo Alexander einem Kommandeur Unterlagen übergab. Dort erfuhren wir, dass Marina (Bondas) in dem Neunstöcker sei, wo wir bereits im August waren. In einem der Häuser befinden sich jetzt unter anderem Unterkünfte für das Militär – von Sanitätern, über Geistliche, bis hin zu Soldaten.

Am Haus angekommen, rief ich Marina an und meinte, wir stünden nun dort, wo sie gerade sei. Doch sie war bereits zu der Familie gegangen, wo sie übernachten wollte. Das war in Alt-Awdijiwka, unweit dem Standort, wo wir uns gerade befanden. Allerdings gingen wir noch in den Neunstöcker, wo Alexander mit zwei Geistlichen sprach, die vor kurzem aus der Westukraine kamen und ihren Dienst vor Ort aufnahmen. Ich filmte draußen noch den danebenstehenden Neunstöcker, weil es zu dämmern begann (Video).

Der andere Alexander, der das Auto fuhr, brachte mich also zu Marina. Das etwas brummelnd, denn etwas weiter lag das Industriegebiet, wo während der Tage meines Aufenthalts in der ATO-Zone immer wieder gekämpft wurde. Ähnlich, wie in Marinka, wobei in Awdijiwka nur die eng angrenzenden Wohngebiete in Mitleidenschaft gezogen wurden. Er meinte, ins Industriegebiet würde er nicht mit mir fahren.

Doch wir fanden das Haus, an dem ich draußen einen Aufkleber der EU sah, dass sie beim Wiederaufbau geholfen hätten. Irgendwie kam es mir so vor, als sei das ein Trostpflaster für die Bevölkerung im Kriegsgebiet und von der EU Aktivismus, um gewissensberuhigend zu zeigen, dass überhaupt etwas getan wird. Ob man sich dort im klaren darüber ist, dass jeden Moment wieder eine Granate in das frisch, nachhaltig, mit neuester Isolation renovierte Gebäude einschlagen kann?

Da ich mich bei Alexander beklagte, er sei beim letzten Treffen mit Marina etwas schroff gewesen, übergab er ihr dieses Mal ein Blümchen und entschuldigte sich bei ihr in Bezug auf meine Beschwerde. Aber wie ich bereits am Bahnhof beim Fahrkartenkauf erfuhr, sind die Donbasser nicht ganz so freundliche Wesen.

Zu meiner Überraschung sprachen dann die Hausbesitzer ukrainisch. Marina hatte ihre Kinder im Sommer nach Deutschland zu einem Sommercamp eingeladen, wo ich zufällig auch vorbei schaute. Aber ich erinnerte mich nicht an deren Gesichter. Im August, als ich zuletzt in Awdijiwka war, trafen wir andere Kinder dieser Gruppe.

Wir bekamen Tee und Kuchen serviert und dann filmte Alexander draußen mein kurzes Interview mit Marina (Video). Zuerst wurde heftiger im Hintergrund geschossen und die Kanonenschläge waren stärker, aber Alexander hatte nur den Fotoauslöser gedrückt, statt auf Videoaufnahme. Deshalb mussten wir das wiederholen, wobei die Soldaten dann wohl gnädiger waren und keinen solchen Krach veranstalteten.

Da die Familie mit Marina noch für den Abend Pläne hatten, nahmen wir sie im Auto bis zum Stadion mit und warteten vor dem Neunstöcker auf Alexander (den Pastor), der dort mit den beiden Geistlichen blieb, um mit ihnen etwas zu besprechen.

Unser Fahrer (auch Alexander) erzählte mir dann eine Geschichte aus dem Krieg:

Eines Abends, im Herbst 2014, waren sie auf einer der schlechten Straßen unterwegs und es begann zu regnen. Plötzlich sah er im Scheinwerferlicht ungewöhnliche „Hubbel“ auf der Straße: Minen!

Im Schritttempo fuhr er weiter und passte angespannt auf, keine dieser „Hubbel“ zu berühren. Das ging vielleicht einen Kilometer so und dann sah er einen Blockpost. Doch er wusste nicht, ob es die „unseren“ oder die „anderen“ sind. Selbst wenn es die „unseren“ waren, könnten sie das Feuer auf Unbekannte eröffnen, die dazu noch mit einem Militärfahrzeug fuhren.

Also stieg er schweißgebadet aus und ging langsam mit erhobenen Händen auf sie zu. Zum Glück, es waren die „unseren“.

Plötzlich meinte er zu mir, ob ich den Sanitätswagen vorne an der Straße gesehen hätte. Da ich aber damit beschäftigt war, seine Geschichte zu verstehen, fiel es mir nicht auf. Doch kurz darauf kam ein Fahrzeug und brachte einen Verwundeten, wohl aus dem Industriegebiet, der fürchterlich schrie. Alexander meinte, das sei die Angst vor dem Tod.

Wir saßen im Auto und draußen spielte sich das für mich durch die Scheibe getrennt ab, als wäre es im Fernsehen. Ich wollte nicht aussteigen, wie Alexander zu mir meinte, denn ich wäre mir vorgekommen, wie ein sensationsgeiler Schaulustiger. Mir reichte, was ich sah und hörte. Die Sanitäter maulten den Verwundeten grob an, er solle die Schnauze halten. Er wurde wohl in den Beinen getroffen, denn sie trugen ihn. Genau weiß ich es nicht.

Der Rettungswagen, in den der Verwundete verladen wurde, war gerade losgefahren. Alexander meinte, sie brächten ihn nach Pokrowsk ins Krankenhaus. Da fuhr auch schon der andere Wagen Richtung Industriegebiet, der den Verwundeten gebracht hatte.

Der Innenraum unseres Wagens füllte sich nach dieser Szene mit Schweigen. Es dauerte noch gut eine Viertel Stunde, bis Pastor Alexander kam und wir uns gemeinsam nach Pokrowsk auf den Weg machen konnten. Abends, gegen 20 Uhr, auf fürchterlichen Straßen, wo in der Dunkelheit gerne realer Krieg gespielt wird, dann, wenn die Beobachter der OSZE ihre Mission für ein paar Stunden unterbrechen.

Wir brauchten für die 70 Kilometer gut 2 Stunden. Da dachte ich an den Verwundeten, den man die gleiche Strecke fahren musste.

Alexander, der Pastor, übernachtete bei sich zu Hause. Wir verabschiedeten uns herzlichst. Den einzigen Auftrag, den er mir mitgab, war, darüber zu berichten, was ich hier im Donbass gesehen hatte. Und Alexander, unser Fahrer, fuhr mit mir ins Kinderheim, wo ich nochmals übernachten konnte, weil es nicht weit vom Bahnhof entfernt lag. Von dort sollte es am nächsten Morgen um kurz nach halb 5 Uhr für mich zurück nach Kiew gehen. Zurück in eine andere Welt…

Unfälle, Service und Volontäre

Unfälle, Service und Volontäre

Gestern war ich im Ukrainischen Haus, um dort ein paar Dinge zu klären. Als ich draußen beim Rauchen stand, hörte ich einen Knall. Ich schaute natürlich, was vorgefallen war und sah, dass vor der Philharmonie ein Auto einem anderen aufgefahren war. Blechschaden, keine Verletzten. Das geschah gegen 16:30 Uhr im beginnenden Berufsverkehr. So gesehen, nichts besonderes. In Deutschland tauscht man die Kontaktdaten aus, fotografiert und dokumentiert den Unfall. So aber nicht in der Ukraine. Dort muss der Unfall aus versicherungstechnischen Gründen durch ein Polizeiprotokoll aufgenommen werden. Bis zum Eintreffen der Polizei darf die Unfallstelle nicht verändert werden. Also standen die beiden beteiligten Fahrzeuge mitten auf der Fahrbahn und der gesamte sonstige Verkehr musste die (ungesicherte) Unfallstelle umfahren.

Um 19 Uhr hatte ich einen weiteren Termin und als ich das Ukrainische Haus verließ, standen die Autos immer noch am gleichen Platz. Ich sah auch ein Fahrzeug der „neuen Polizei“ kommen, doch das war wohl trotz Blaulicht auf dem Weg zu einem anderen Ort, denn es fuhr an der Unfallstelle vorbei. Keine Ahnung, wie lange die beiden dort noch standen. Vor Jahren erzählte mir einer meiner „Schüler“, den ich damals deutsch unterrichtete, dass er über 4 Stunden bis zum Eintreffen der Polizei (damals noch Miliz) warten musste. Geändert hat sich das offenbar nicht.

Bei meiner Verabredung wollte ich nichts essen, aber da sich das Gespräch hinzog, riefen die beiden Damen die Bedienung. Keiner fühlte sich zuständig. Und als dann doch eine Bedienung kam, fragten sie, wie lange es denn dauern würde, bis sie ein Eis bekämen, für das sie sich interessierten. 20-30 Minuten müssten sie warten. Sie lehnten dankend ab. Undenkbar!

Ich selbst habe das selten erlebt, doch weiß ich von anderen Treffen, dass meine Begleitungen oftmals über den Service ihrer Landsleute schimpfen. Zu langsam, zu unfreundlich und manchmal unverschämt. Dabei hatte ich am Wochenende das Gegenteil erlebt. Der Restaurantbesitzer sah mich allein ohne etwas da sitzen und fragte, warum das so sei. Ich wartete bereits nach aufgegebener Bestellung gut 10 Minuten und gerade in dem Moment, als er fragte, kam die Bedienung auch mit dem Gewünschten. So hatte es sich erledigt.

Das gestrige Gespräch drehte sich dann um Hilfe für Soldaten, die aus der ATO-Zone kommen und wieder im Zivilleben Fuß fassen sollen. Im Prinzip sucht die Organisation Hilfe, um den zu gründenden Kleinunternehmen einerseits Schulungen zu geben, wie man in der Ukraine Geschäfte eröffnet, wie man sie dann auch langfristig und gewinnbringend führt, sowie andererseits wo man Startkapital bekommen kann.

Die beiden Damen haben Erfahrung in dem Bereich. Die eine ist selbst Unternehmerin, die andere ist Rechtsanwältin und arbeitete lange bei einer Bank. Mir sind aus meinen Übersetzungen Programme der EBRD bekannt, wobei ich versprach, danach zu suchen. Außerdem empfahl ich deutsche Institutionen in der Ukraine, wohin sie sich wenden sollten, denn sie bieten soweit mir bekannt ist teilweise solche Unterstützung.

Die Organisation, für die die beiden tätig sind, existiert nicht seit gestern, sondern hat bereits solche Programme durchgeführt und auch Geld dafür bekommen. Doch leider laufen die Förderungen nach einer gewissen Zeit ab, weshalb man neues Geld beantragen muss. Dies geschieht oftmals bei neuen Fördergebern, da eine Folgeförderung selten der Fall ist.

Und so hörte ich auch Geschichten über Startups. In einem Fall lernten sich zwei Kleinunternehmer in der ATO-Zone kennen; der eine verlor sein Bein, der andere blieb unversehrt. Die Organisation half ihnen, zuerst eine Reha zu machen, damit sie psychisch wieder auf die Beine kommen, dann erhielten sie eine Beratung zu ihrer Geschäftsidee, dann etwas Startkapital, um sich Ziegen herzutun, aus deren Milch sie Käse produzieren.

Die beiden Damen erklärten, dass es wichtig ist, zuerst die Integration ins „normale Leben“ sicherzustellen, dann die Motivation für die Geschäftsidee zu fördern und mit Machbarkeitsschulungen die Neuunternehmer eine gewisse Zeit lang zu betreuen, bis sie selbst zurecht kommen.

Ich wünsche mir sehr, dass es für dieses Vorhaben weiter Fördermittel gibt, denn eine Sorge ist, dass die ehemaligen ATO-Kämpfer zu Alkoholikern werden, Selbstmord begehen, weil sie für sich keine Perspektive sehen und keine Hilfe bekommen, oder im schlimmsten Fall aus Hass Amok laufen.