Heute hatte ich keine Verabredungen und entschloss mich, einen Spaziergang zu machen, um meine Eindrücke der letzten Zeit zu verarbeiten. Interessanterweise beschäftigen mich meine Probleme in Deutschland kaum, denn was ich hier in der Ukraine erfahren hatte, lässt all das in Deutschland wie einen Kindergarten aussehen. Vor allem ging mir die Geschichte eines Freundes aus dem Donbass nicht aus dem Kopf.

Auf meinem Weg durch den Wald und dann über freies Feld begleiteten mich Schmetterlinge, die miteinander in der Luft zu tanzen schienen. In der Sonne roch es nach Heu und es war wunderbares Wetter. Genau das richtige Ambiente, um seine Gedanken schweifen zu lassen…

Was drückte mich nun so sehr? Im Prinzip traf ich vor gut einem Jahr einen älteren Herrn, der sich im Donbass für Kinder engagiert. Er half einer Freundin uns so lernte ich ihn auch kennen. Was ich nicht wusste: er wurde im August 2014 von den Separatisten gefangen genommen und war dort fast einen Monat im Gefängnis. Er wurde mit einem weiteren Zivilisten und zwei Militärangehörigen ausgetauscht und kam so wieder frei. Doch seinen Willen gebrochen hatten sie nicht. Wir sprachen darüber, als ich jetzt in Kramatorsk war.

Er bat mich, jemanden zu finden, der sich für seine Geschichte interessiert und darüber berichtet. Dabei geht es nicht um ihn als Person und welche außergewöhnlichen Dinge er erlebte, sondern dass die Nachwelt erfährt, was im Donbass passiert. Und diese Bitte vernahm ich nicht nur einmal von ihm, sondern hatte bereits öfters von anderen solche Anfragen. Es geht diesen Leuten darum, jemandem das zu erzählen, was sie erlebten und wohl selbst kaum fassen können, weil es wirklich außergewöhnlich ist. Sie sind dabei in etwas hineingeraten, auf das sie selbst keinen Einfluss hatten. Ich meine diesen Krieg, der für Außenstehende sowieso nicht fassbar ist.

Doch ich schweife ab. Zurück zu meinem Freund und seiner Geschichte im Speziellen: ursprünglich hatte er ein Hobby, alte Uhren zu reparieren. Dafür braucht man sehr ruhige Hände. Doch in der Gefangenschaft wurde er mehrfach mit Gewehrkolben so lange auf den Kopf geschlagen, bis er das Bewusstsein verlor. Und letztlich sind die Folgen, dass seine Hände nicht mehr so funktionieren, wie es zuvor war. Manchmal gehorchen sie ihm nicht und er kann nicht mehr das Werkzeug ruhig halten. Deshalb gibt er Silberuhren nach Kiew in eine Goldschmiede, wo sie daraus Medaillen machen.

Er erzählte auch von den Wärtern. Einer von ihnen sei ein Banker aus Moskau gewesen, der seinen Aufenthalt im Donbass als „Safari“ verstand und entsprechend seine sadistischen Gelüste auslebte. Zwei weitere Wärter seien zwischenzeitlich tot, doch er wisse, dass dieser Banker noch am Leben sei. Wo sich dieser allerdings aufhalte, wäre ihm nicht bekannt.

Ein anderes Thema unserer Gespräche war das immer noch umkämpfte Industriegebiet in Awdijiwka. Er fährt ab und zu hin, um den dort stationierten Soldaten Sachen zu bringen. Dabei muss er durch ein Tor – den Eingang in dieses Industriegebiet. Dieses wird regelmäßig scharf beschossen, weshalb Schutzkleidung nötig ist. Wenn man schnell genug durch kommt, ist die nächste Hürde, aus dem Auto zu springen und in einem Graben zur eigentlichen Stellung vorzudringen. Krieg eben, wie er meinte…

Ich wusste, dass er auch in Deutschland war und Austauschprogramme für die Kinder aus dem Kriegsgebiet mitorganisiert. Er meinte, dass es ihn ablenkt, weil er dabei Verantwortung tragen muss. In ruhigen Tagen kann er nämlich nicht schlafen, weil ihn all diese Ereignisse stark beschäftigen und verfolgen. Auf psychologische Hilfe angesprochen, meinte er, wer das denn dort vor Ort anbieten könne und was es bringe.

Es war zwar unser erstes Gespräch, doch für mich war es nichts wirklich Neues. Und trotzdem ist jedes einzelne Schicksal, jede individuelle Erfahrung dann wieder etwas anderes und eine Facette dieses unbegreiflichen Wahnsinns. Der Krieg geht ins vierte Jahr und ich lernte in dieser Zeit viele Menschen kennen, die vor Ort waren. Selbst habe ich nur die Folgen gesehen und viele Male zugehört, was die Leute aus dem Gebiet erzählten. Was Beschuss heißt, kenne ich auch, obwohl ich das nicht mit dem vergleichen will, was mir andere berichteten.

All diese Ausnahmemenschen, wie ich sie nennen will, verdienen einen riesigen Respekt, denn bei ihnen finde ich eine Hilfsbereitschaft und Menschlichkeit, wie ich sie anderswo stark vermisse. Und immer, wenn ich mit ihnen zu tun habe, will ich ihnen ebenfalls etwas Gutes tun, will helfen, sie unterstützen und das in meinem Rahmen mögliche tun. In diesem Fall, entweder Journalisten finden, die sich für solche Geschichten interessieren, oder vielleicht ein Stipendium, um die Geschichten dieser Ausnahmemenschen zu sammeln, zu übersetzen und in einem Buch zu veröffentlichen. Letzteres scheint mir sogar eine würdigere Alternative zu sein, als ein kurzes Aufblitzen eines Artikels in den Medien.